Ich öffnete einen Karton mit Briefen, Postkarten, an mich gerichtet. Las darin und fühlte die Erniedrigung von damals aus der gegenwärtigen Perspektive, um mich selbst an die Hand zu nehmen, noch einmal, vielleicht überhaupt erst jetzt einen bewussten Schritt zurückzutreten: zu mir.

Meine Offenheit mache mich schutzlos, hieß es an einer Stelle. Gefolgt von geäußerten Wünschen, mir zu helfen, ohne zu wissen, wie.

Schutzlos bot ich meine Worte als Projektionsfläche an, es fehlte mir an Erfahrung, doch spürte ich damals schon die Fremdheit in mir sich ausbreiten.

Übertragungen, die sich meiner Worte bedienten, um von der eigenen Schutzlosigkeit, Schwäche abzulenken. Ein Spiel, das ich in unzähligen Variationen erlebte.

Verwickelt in die inneren Dramen der mir Begegnenden, die sich anderer Personen bedienten, um sie mit ihren Worten, ihrem Geist einzufügen in ihre Ich-Geschichte, die sie als Wir-Geschichte zu präsentieren suchten, um sich stärker zu fühlen. Stets auf der Flucht vor der Erkenntnis, ein-sam zu sein.

Leidet nicht gerade jener unter seiner Einsamkeit, Einzigartigkeit, der seiner Eltern, Kinder, „Freunde“, Bekannten, Lehrer, Tiere, Ehepartner, Kameraden bedarf, um sie mittels ihres Geistes, ihrer Gedanken zu belegen und führen, wenn diese mangels Selbstbewusstsein zur Marionette in seinem Drama werden?

Ich liebe meine Einsamkeit. Und litt unter all den Projektionen jener, die sich ihrer Einsamkeit nicht bewusst sein wollten, um mich zu bombardieren mit ihren Bildern anderer Personen, deren Eigenarten mir verborgen blieben in ihrem Unterworfensein an eben jene Diktatoren, die sich Autoren, Komponisten, Künstler nannten, statt einfach sie selbst zu sein.

Schutzlos ist nicht der Einsame, sondern jener, welcher sich in Zwei- und Mehrsamkeiten versteckt, verwickelt, kleidet, weil er glaubt, aus sich selbst heraus lebensunfähig zu sein.

Doch nur jene kann den Abhängigen Mut machen, sich selbst aus den Verstrickungen zu lösen, die ihre Einsamkeit offenbarend lebt. Dass ich als Projektionsfigur all der Ängstlichen, Kämpfenden, Schutzsuchenden benutzt werde, um meine Seele als Austragungsort zur Verfügung zu stellen, habe ich mir nicht ausgesucht. Ich hatte und habe nur ein Ziel für mich selbst: Frei zu sein.

Und das bin ich.

Der Preis ist hoch, nicht selten erschien er mir unbezahlbar. Im Grunde aber hat es mich nichts gekostet als den puren Willen, Liebe zu empfinden.

Ende

aus: Freiheit (Arbeitstitel) von Jutta Riedel-Henck, 20. Oktober 2018 bis 11. Mai 2019

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