Frau Dr. Winkelmann hetzte klagend durch den Flur ihrer bürokratischen Arbeitsstelle. „Ich fasse es nicht, ich fasse es einfach nicht!“ Mit klackernden Hartplastiksohlen huckelte sie von Tür zu Tür. Ihre feuchten, etwas kalten Hände berührten die Klinken, drückten sie nieder, um sie gleich wieder hochschnellen zu lassen. Jede Tür wurde einen Spalt weit geöffnet, durch den spitze Augenblicke stachen: „Diese Frau bringe ich um!“

„Ich habe nichts zu sagen! Das Schreiben ist reine Willkür, Ausdruck schlendernder Gedankenglotzereien, ich möchte es lieber für mich behalten!“, hatte Gunda Bockelei ihr gerade mitgeteilt. Dabei war diese Autorin vor Jahren die Entdeckung der Lektoratsleiterin Winkelmann gewesen, ihr erstes Buch wurde bereits zum dritten Mal aufgelegt, und die literarische Welt erwartete eine Fortsetzung des frisch angeheizten Erfolges.

Erst kürzlich war das Erstlingswerk der jungen Frau Bockelei von namhaften Kritikern mit dem begehrten Schnörkelpreis für herausragende Literatur zu fördernder Nachwuchsautoren geehrt worden, gestiftet von Hans-Joachim Schnörkel, dem vor 54 Jahren verstorbenen Sohn Gustav-Ferdinand Schnörkels, einem durch Kriegsverletzungen am Schreiben gehinderten, talentierten, aber werklosen Schriftsteller.

Für alle unfassbar und unerwartet verfiel Gunda Bockelei nach der Preisverleihung in einen Zustand schwerer Depressionen, den Frau Dr. Winkelmann für eine leicht zu heilende Laune hielt und nicht weiter ernst nahm. „Schreiben Sie nur, schreiben Sie einfach, Hauptsache, Sie schreiben!“, hatte Sie der erfolgreichen Jungautorin immer wieder zugerufen, wenn diese am anderen Ende der Telefonleitung von Melancholie und Schwermut sprach und gelangweilt vor sich hin nuschelte. „Sie können schreiben, was Sie wollen, wir werden es drucken!“, setzte Frau Winkelmann schließlich hinzu, ohne dass sich ihre Hoffnung nach einem zustimmenden Freudenschrei der Niedergedrückten erfüllte.

Gunda Bockelei hatte Soziologie und Geschichte studiert, bevor bei einer Lesung des örtlichen von der Stadt geförderten Kulturvereins ihre Liebe zur Literatur entflammte. Von nun an besuchte sie wöchentlich einen Stammtisch junger Autoren, die einander aus ihren neuesten Werken vorlasen, um anschließend darüber zu diskutieren. Bald schon war auch Gunda in der Lage, ihre ersten Gedichte vorzutragen, eine Art locker formulierter Klageworte über verlorene Träume zwischen Liebe und Einsamkeit. Die Anwesenden zeigten sich betroffen und einfühlend, während Gunda mit ihrer kaum zu verbergenden Schüchternheit zu kämpfen hatte. Aber gerade diese Bereitschaft zur Überwindung schamhafter Schwächen erregte die Gemüter so sehr, dass niemand es wagte, Gefühlen der Abneigung einen Raum des Ausdrucks zu gewähren. Was Gunda von sich gab, wurde nicht zum Stoff heißer Auseinandersetzungen, aber dass sie es tat, erschien den Beteiligten wie eine Sensation, die entsprechende Würdigungen nach sich zog.

Gunda, die mit ihrem kurzen Haarschnitt, hosenbekleidet, ein wenig mager und kurvenarm eher jungenhaft wirkte, änderte innerhalb weniger Wochen ihr gesamtes Auftreten. Hatte sie bis dahin gerne zurückgezogen und still vor sich hin gelebt, polterte sie nun mit Schwung in öffentliche Versammlungen, grüßte überschwänglich die Anwesenden und musste mehrmals auf den Beginn einer Veranstaltung hingewiesen werden, indem allgemein, aber mit gezielt gestreiftem Blick an Gunda vorbei, um Ruhe gebeten wurde. In solchen Fällen hatte die junge Autorin immer eine betont überrascht wirken sollende Mimik vorbereitet, von der sie sich nur schwer wieder lösen konnte. Um der Gefahr des Ertapptwerdens zu entrinnen, die erhoffte, aber nicht zu ertragende Aufmerksamkeit von sich abzulenken, vertiefte sie ihre Blicke in einen kleinen schwarzen Rucksack, aus dem sie nach einigem Wühlen Buch und Füllfederhalter hervorkramte. Schließlich sollte niemand glauben, Gunda sei egozentrisch veranlagt, und so zeigte sie hingebungsvoll zuhörend eindringliches Interesse an den Werken ihrer literarisch engagierten Kollegen.

Jutta Riedel-Henck, November 1999

 

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