Wenn ich mich hier und da in der Öffentlichkeit äußerte und dabei Begriffe anwandte, die in „der“ Psychologie einen großen Stellenwert einnehmen, fühlte ich mich wie ein Kind, das gewagt hatte, aus seinem inneren Empfinden heraus Gedanken zu entwickeln, um damit Reaktionen zu provozieren, die diese Art des Denkens und Formulierens abwerteten. Dann hieß es, das und jenes würde aber laut Definition solches und anderes bedeuten, und dies in einem Tonfall, der mich fühlen ließ, dass ich etwas Verbotenes, Falsches, Schlechtes getan hätte. Sogleich spürte ich ein großes Macht-Gefälle: Die Studierten, Akademiker mit ordentlichem Abschluss von Diplom bis Doktor, womöglich einem öffentlich angesehenen Image in irgendeiner Funktion als Professor, Therapeut ... Soundso, erfolgreicher Sachbuchautor eines großen Verlages, glaubten sich offenbar in Sicherheit mit ihrer Handhabung des entsprechenden Begriffes. Mehr noch, schien er ihr ureigener Besitz zu sein, über dessen Gebrauch nur sie zu bestimmen hätten.

Ähnlich erging es mir in diversen anderen Bereichen. Der studierte Germanist und Schulbuchautor, welcher genau zu wissen meinte, was ich unter lyrischem Ich zu verstehen hätte, der zutiefst beleidigt reagierte, wenn ich z. B. mit dem Wort Niveau spielte, das offenbar einen festen Platz in seiner Werteskala einnahm, an die ich mich zu halten hätte, um sein Selbstwertgefühl nicht ins Schwanken zu bringen, trug in anderer Weise dazu bei, dass mir jegliche Lust am Denken und Schreiben in seiner Gegenwart verging, um meinerseits das Weite gesucht zu haben.

Ich hatte noch nie Freude daran, geschweige denn das Bedürfnis, verbale Begriffe und ihre Bedeutungen von anderen zu übernehmen. Ich fand diese Art des „Lernens“ zutiefst unbefriedigend, wenn sie auch insbesondere in der Schule gefördert, gefordert und belohnt wurde in Form von freundlicher bis jubelnder Anerkennung sowie „glänzenden“ Zeugnissen bzw. bedrucktem Papier, das wie eine Aktie dessen Besitzer in seinem Wert steigen ließ.

Wenn ich auch abhängig war von diesem Wertesystem und emotional zu beeinflussen, mein eigener Wunsch, mein inneres Wollen, mein Streben nach innigem Wohlsein, Harmonie und Erfüllung ureigener Bedürfnisse führte mich stets an einen Punkt, da ich mich in aller Leichtigkeit gegen diese Art des oberflächlichen Erfolgs entschied, um das zu entdecken, was ICH schön, angenehm, aufregend, liebenswert fand: mich selbst.

Mich selbst nicht als ein in die Welt geworfenes Paket, das es zu entpacken gilt, sondern als aus der Welt, dem Alles gewachsener Spross, dessen Werden sich durch die Wurzeln nährte und nicht von äußeren Umständen, die ihn zwar bewegen, aber nicht zu entwurzeln vermochten.

Gefühle der Wertlosigkeit, die ich auf all meinen Wegen durchlitt, erlebte ich, so schwer sie mich auch bedrückten, als vergänglich. Wie nach einer Reise durch Umstände, deren Eindrücke mich für kurze oder lange Momente zu prägen vermochten, blieb nichts von ewigem Bestand.

Weise Stimmen sagen, der Mensch solle dankbar sein für all die Verletzungen und Niederlagen seines Lebens. Doch diese Dankbarkeit gilt nicht den Verletzungen und „Misse-Taten“ bzw. ihren Vollziehern, sondern dem Licht, das sich durch Vorhandensein gelegentlicher Dunkelheit in seiner wunderbaren Heilsamkeit offenbart. Zu erleben, dass eine Reise durch Höhen und Tiefen, Himmel und Hölle, stets an einem Ort des größten Glücks endet, jede Geschichte zu einem „Happy End“ führt, dass die Urkraft von Allem uns einem Paradies gleich auffängt, die eigentliche und wahre Heimat nicht an Orte und Umstände gebunden ist, sondern in aller Ewigkeit immer und überall existiert, in mir, durch mich, vollkommen unabhängig von meinen Gedanken, meinem Tun und – meinen Wertpapieren, aus immer anderen Perspektiven zu erfahren, was ich bin und kann, ich mehr und mehr wachse, ohne, dass ein Ende abzusehen wäre, erfüllt mich mit tiefer Dankbarkeit.

Und nichts befriedigt mich so sehr wie die Entfaltung meiner eigenen Sprache in klarer Verbundenheit mit der Quelle, aus der ich alles schöpfe, was mir ein Gefühl wahren Wertseins verschafft.

Jutta Riedel-Henck, 29. Mai 2016

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