Während ich beim Staubsaugerbehälterausleeren über einen Titel nachdachte für den Text, den ich aus meinen aktuellen Gedanken zu kreieren wünschte, entdeckte ich die Mehrdeutigkeit von „leben lassen“, die den Kern meiner Beobachtungen auf den Punkt bringt.

Beim Zusammenleben mit einem Hund, der es liebt, zwischen Haus und Garten herumzuspazieren, um dabei eine Menge Erde und anderen natürlichen „Dreck“ auf dem Fußboden zu verteilen, lerne ich täglich, was Leben bedeutet, um gleichfalls zu erkennen, wie intensiv wir Menschen daran wirken, eben dieses Leben zu vermeiden.

Wir benutzen möglichst wenig Geschirr, denn wir müssten es später abwaschen. Geben wenig Geld aus, denn wir müssten später neues verdienen. Verkneifen uns einen spontanen Gang in den Garten, ohne die Schuhe zu wechseln, denn wir müssten den Dreck, den wir – evtl. – mit ins Haus nehmen, wegkehren. Wir essen keine „ungesunden“ zuckerhaltigen Speisen, denn wir müssten uns anschließend die Zähne putzen. Wir essen am besten gar nichts mehr, denn es könnte Verdauungsprobleme bereiten und Fettpolster um Bauch, Hüften und Oberschenkel erzeugen. Wir bewegen uns nicht, denn es könnte uns müde machen, die Schuhsohlen oder Gelenke abnutzen und vorzeitig altern lassen. Wir atmen flach, denn wir könnten durch die Pollen in der Luft die Bronchien reizen und müssten womöglich husten. Wir denken nicht mehr selbst, denn es könnte zu Erkenntnissen führen, die uns vom Rest der Welt unterscheiden.

Selbstverständlich ist Leben nicht möglich, ohne zu leben. Und so lässt jeder Lebende, der sich sein Leben verkneift, seine Umwelt entscheiden, wann er was zu tun oder lassen hat, um das Leben nicht zu gefährden. „Magst du nicht noch etwas von diesem oder jenem essen? Du musst doch etwas essen!“ – „Warum gehst du nicht mal raus an die frische Luft? Es ist so schön draußen!“ – „Mach dir doch das Licht an, es ist stockduster hier, das drückt auf die Stimmung!“ – Diesen aufrichtig geäußerten Anregungen mag der Lebensvermeider selten zustimmen, weiß er doch um all die schrecklichen Folgen, die es um jeden Preis zu unterbinden gilt.

In jeder seiner Rechtfertigungen scheint der Hinweis verpackt, dass es sich nicht um eine Vermeidung des Lebensgenusses handelt, sondern pures Schicksal, das dem armen Wicht sein Leben verleidet und ihn daran hindert, es zu genießen. Es sind die anderen bösen Menschen, die rücksichtslos leben, sich nehmen, was ihnen gefällt, die vielen Egoisten bis hin zu den geldgierigen Kapitalisten, die alles für sich behalten und immer mehr wollen: haben, haben, haben!

Schon aus moralischen Gründen beschränkt sich der Lebensvermeider auf Wasser, Brot und Dunkelheit in seinem muffigen Kabuff, denn irgendwann, irgendwann werden sie es einsehen müssen, die habgierigen Lebemänner und Frauen, dass sie an dem Unleben des Nichtlebenden Schuld sind und gefälligst dafür zu sorgen haben, dass sein Leben lebenswert wird.

Oh ja ... sich sorgen. Das ist ein großes Problem: Mein Problem. Ich mache mir allerdings weniger Sorgen um den Lebensvermeider als vielmehr um mich selbst. Ich sorge mich um meine gute Stimmung, meine Freude am Leben, ich sorge mich um meine Freiheit und Spontaneität. Am meisten aber leide ich unter den im Verborgenen schwelenden Erwartungen und Schuldzuweisungen, den unausgesprochenen, aber wirkungsvollen Gedanken des Antimenschen, der genau zu wissen scheint, was er nicht will, während er dem, was er will, keine Aufmerksamkeit schenkt. Die Angebote mögen immer von außen kommen, der Umwelt, ein „Ich will“ könnte schließlich zu Ablehnung und Misserfolg führen, ein Umdenken erfordern: Neues ausprobieren, experimentieren, suchen, sich bewegen – als Ich bekennen zum Hiersein. Das käme womöglich einer Entheiligung gleich, die seine lang gepflegten moralischen Maßstäbe als lebensfeindlich entlarvten, in die Erkenntnis mündend, dass niemand als er selbst Zeit seines Lebens dafür bzw. dagegen gesorgt hat, dass ihm sein Leben missfällt.

Sicher. Wir alle lernen aus der Konfrontation mit Gegensätzen, dem Pro und Kontra, Vermeiden und Zulassen. Wenn wir denn lernen wollen: indem wir leben. Das Leben zu vermeiden, lässt den Menschen dumm bleiben. Und so kommt es, dass nicht wenige erst im Augenblick des physischen Todes zur Einsicht gelangen, dass sie nie gelebt haben. Aber das Leben geht weiter: Auch nach dem Tod.

Den Tod vermeiden zu wollen, um ein gutes Leben zu haben, scheint mir die größte Dummheit der Menschen sein.

Jutta Riedel-Henck, 30. Mai 2016

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