„Ich würde dir deine Krankheit abnehmen, wenn ich könnte“ – so heißt es nicht selten aufopferungsvoll in Gesprächen zwischen Menschen über persönliches Leid, von dem offenbar geglaubt wird, dass es sich weder ändern noch lösen ließe.
Natürlich weiß der so Redende, dass ihm diese Übernahme nicht möglich ist. Ob er es wirklich täte, wenn doch?
Menschen gaukeln einander mit Hilfe von Worten viel vor. Worte sollen den anderen beschwichtigen, ihn wohl stimmen bezüglich der eigenen Person, öffnen oder einfach „gewogen halten“. Das Sich-Sorgen um andere Personen gilt aus Ausdruck von Zuneigung im positiven Sinne. Christen würden es vielleicht Nächstenliebe nennen. In Wahrheit sorgt sich jeder um sich selbst bzw. das, was er für sich zu brauchen glaubt, um sich gut oder besser zu fühlen.
Wenn ich dem anderen signalisiere, dass ich ihm seine Sorgen abnehmen würde, sage ich gleichfalls, dass ich ihn für schwach, wenn nicht unfähig halte, aus der für ihn leidvollen Situation einen Weg zu finden, der ihn fördert, aufbaut und schließlich befähigt, eigene Lösungen zu entwickeln. Man könnte glauben, jener, der das Leid zu übernehmen gedenkt, sei stärker und eher befähigt, damit zurechtzukommen.
Ich empfand solch sorgenvolles Verhalten schon immer als unerträglich. Es führte dazu, dass ich z. B. meiner Mutter wenig erzählte und sie, so gut es mir gelang, aus meinem Leben schloss. Ihr folgten unzählige andere Personen, deren Gegenwart mich in meiner lebendigen Entwicklung zutiefst hemmte. In allen nur denkbaren Bereichen zog ich früher oder später den „Alleingang“ vor, um sorgenvollen Projektionen zu entkommen.
In den Erwartungen anderer Menschen verlor ich mich selbst. Auch die Kehrseite des Sorgens, der Ansporn, hielt mich in Gefangenschaft fremder Gedanken und Wünsche, besonders wenn ich spürte oder wusste, dass die so Denkenden von etwas sprachen, das sie selbst nicht beherrschten.
Dass wir fühlenden Wesen dazu neigen, uns im Außen zu spiegeln und die Regungen der Umwelt „persönlich“ zu nehmen, halte ich für eine natürliche Eigenschaft. Doch steht es uns frei, unser Verhalten zu ändern, wenn wir bemerken, dass diese Regungen sich negativ auf unser Selbstempfinden auswirken. Dazu gehört, sich herrschenden Konventionen zu entziehen und damit möglicherweise „unbeliebt“ zu machen.
Wie oft heißt es z. B., dass, wer sich gewaltvollen Krisensituationen entzieht, ein rücksichtsloser Verdränger sei, welcher sich nicht um die Leidenden kümmerte. Oder es unhöflich sei, eine Gesprächsrunde zu verlassen, in der Anwesende von Krankheiten erzählen, um sich gegenseitig zu überbieten in der Schilderung auftretender Symptome.
Als mutig gilt, sich mit Kriegen zu befassen, persönlich in entsprechend betroffene Gebiete zu begeben, um darüber zu berichten. Wer kein Interesse daran hat, schreckliche Ereignisse der Vergangenheit zu thematisieren (wie beispielsweise in Deutschland die NS-Zeit), läuft Gefahr, in die „rechte Ecke“ gestellt zu werden neben jene, die das tatsächlich Geschehene leugnen.
Nicht zuletzt die Psychoanalyse trug dazu bei, vergangene Traumata in der Gegenwart zu neuem Leben zu erwecken. Und wer weiß schon, was den vermeintlichen Patienten oder Klienten auf diesen Wegen von ihren vermeintlichen Helfern in die Gedankenwelt projiziert wurde, um Erinnerungen zu verfälschen, neue Geschichten zu schreiben, Dramen zu kreieren, die so niemals stattgefunden haben, in der Gegenwart aber umso größeren Schaden anrichten.
Wie viele Menschen, die glauben zu helfen, überschätzen ihre eigene Standhaftigkeit, weil sie im Akt des Helfens von ihrer eigenen Schwäche ablenken?
Geraten sie nicht gerade deshalb in kriegerische Auseinandersetzungen und Situationen, weil sie nicht wissen, wer sie selbst sind? Weil sie nicht auf ihre eigene innere Stimme hören, geschweige denn eine solche in sich vermuten? Weil sie sich von ihrer Umwelt er-regen, führen, „leben“ lassen? Und in dieser ausschließlich re-agieren, ohne je aus sich selbst heraus eine absolut bewusste Entscheidung zu treffen? Was will ich? Wer bin ich? Welche Ziele habe ich? Was möchte ich erreichen? Wofür lebe ich? Worin liegt der Sinn meines Lebens?
Solche Entscheidungen bedürfen wie die innere Entwicklung und deren bewusste Wahrnehmung der Einsamkeit und Bereitschaft, sich auf sich selbst zu besinnen. Erst wenn ich weiß, wer ich bin, wie ich mich anfühle, erkenne ich, worin ich mich vom Rest der Welt unterscheide, um mein Anderssein nicht nur zu akzeptieren, sondern zu lieben und als unschätzbaren Wert zu begreifen.
In der Vielfalt der Einzelwesen liegt der große Reichtum. Würde jeder Mensch von seinen einzigartigen, be-sonderen Kapazitäten Gebrauch machen, wären Konkurrenzkämpfe ebenso überflüssig wie all die Kriege um vermeintlich zu geringe Ressourcen.
Unsere Welt sieht anders aus. Und gerade jene, die sich im kulturellen Leben für künstlerische Eigenarten und Eigenbrötler engagieren, lassen dabei die wichtigste Person außen vor: sich selbst.
So gibt es kleine und große Gruppen, Unternehmen, Verlage, Plattenlabels, Institutionen, Vereine ... die für oder wider diesem und jenem solches und anderes in die Welt tragen, um als Einzelne darin Geborgenheit zu finden und die wahre Einsamkeit und Selbstfindung ebenso zu veruntreuen wie jene, die angeblich zu den Unterdrückern der verkannten Genies zählen. Neid, Eifersucht, Streit beherrschen die kulturelle Szene, wenn auch auf einem intellektuell „angesehenen“ Niveau. Doch denken, ohne (sich selbst) zu leben, ist ebenso dumm wie nicht zu denken, ohne sich selbst zu leben. Der Unterschied existiert nur in den Gedanken, nicht aber im Inneren aller Beteiligten, das bei den einen wie anderen verwahrlost.
Jutta Riedel-Henck, 24. Juli 2016