Kürzlich kam mir in den Sinn, dass sich die Menschheit zur Zeit in der Phase ihrer Pubertät befindet.

Die Deutschen haben eine Bundeskanzlerin, die in der Mutterrolle gefordert und angegriffen wird. Wenn ich zurückblicke, sehe ich mich in einer ähnlichen Rolle, die ich einst fraglos ausfüllte, um mich zunehmend davon zu lösen.

Alle Beziehungen meiner Vergangenheit funktionierten wunderbar, solange ich mich kümmerte, empathisch die Bedürfnisse der Nächsten in den Mittelpunkt meiner Aufmerksamkeit stellte, um mich unentwegt mit ihnen zu beschäftigen. Doch wartete ich vergeblich auf die freiwillige Abnabelung der erwachsenen Personen.

Ich erkannte, dass es nicht an mir ist, für die Unabhängigkeit der von mir Abhängigen zu sorgen, und dass Schuldgefühle gegenüber jenen, die sich weigerten loszulassen, Ausdruck eines kranken Glaubens sind, von dem ich mich zu befreien suche.

Bisher glaubte ich, bedingungslose Liebe sei die absolute Hingabe an alle sich mir zeigenden Bedürfnisse aller Lebewesen der Welt. Ich hielt mich für schlecht, wenn ich Gefühle von Abneigung, Ekel, Wut und Hass entwickelte gegenüber Menschen, die von mir erwarteten, ich möge mich ihnen liebevoll widmen. Ich glaubte, kein Recht zu haben, wem auch immer etwas abzuschlagen, ich glaubte, alle, die irgendwelche Bedürfnisse zeigten, seien ohnmächtig und bedürften der Hilfe anderer, und es sei unmenschlich, asozial, sie ihnen zu verweigern, insbesondere, wenn es sich um die nächsten Verwandten handelte.

Gleichsam leitete mich meine innere Stimme an, nicht auf all die jammernden, klagenden Menschen zu hören. Aus Erfahrung wusste ich, dass meine Unterwerfung nur meinen eigenen Untergang zur Folge hätte, und dieses Opfer war (und bin) ich nicht bereit zu geben.

Im Grunde bin ich mir sicher, dass jedes Wesen um die Folgen dieser Art von Opfermentalität weiß. Der Glaube, welcher auf Abhängigkeit beruhenden Gemeinschaften zu Grunde liegt, wird allerdings nicht infrage gestellt, denn dies würde – auf Grundlage des Glaubens – bedeuten, aus der Gemeinschaft ausgestoßen zu werden, um ganz und gar auf sich allein gestellt zu leben bzw. – auch das ist Bestandteil des Glaubens – zu scheitern.

Die einzig wahre Macht ist der Glaube zu glauben, dass der sich einem herrschenden Glaubenssystem Entziehende ohnmächtig sei. Doch wer sich diesem Glauben entzieht – wie ich – ist nur ohnmächtig innerhalb des Glaubenssystems, also gemäß dem Glauben jener, die in diesem System darum kämpfen, buhlen, schummeln, lügen ... ihren Platz, ihre Macht zu verteidigen, sei sie nun groß oder klein. Und mächtig ist dieser Glaube nur gegenüber jenen, die es glauben.

Heute pflege ich einen anderen Glauben von Bedingungslosigkeit. Vielleicht ist es noch nicht einmal ein Glaube. Es ist vielmehr die Auflösung des Glaubens, da jeder Glaube, an dem festgehalten wird, in der Vorstellung zum leblosen Ding wird, an dem alles, was lebt, einem begegnet, gemessen wird, um es zu „objektivieren“. Bedingungslosigkeit ist die Bereitschaft, sich dem unaufhaltsamen Fluss des Lebens, des Seins hinzugeben. Und diese Hingabe ist eine subjektive, einmalige. Jede Entität gibt es nur einmal. Und immer nur jetzt. Alles andere halte ich für einen Glauben, der Leben negiert, indem ein jeder danach strebt, sich von den Entitäten anderer zu ernähren, um als System id-entitäts-loser Krieger/innen sich selbst zu vernichten.

Jutta Riedel-Henck, 26. Juni 2016

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